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Vertrag / Vertragsrecht

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Gläubigermehrheit

Rechtsgebiet:
Vertrag / Vertragsrecht
Stichworte:
Vertragsrecht
Autor:
Bürgi Nägeli Rechtsanwälte
Herausgeber:
Verlag:
LAWMEDIA AG

Bei Obligationen stehen normalerweise einzelne Gläubiger einzelnen Schuldnern gegenüber. In Sonderfällen können aber auf Gläubigerseite mehrere Personen (juristische und/oder natürliche Personen) an ein und derselben Forderung beteiligt sein. Auf diese Fälle von Gläubigermehrheit wird nachfolgend eingegangen:

Allgemein

  • Je nachdem wie die Mehrzahl der Gläubiger an der Forderung beteiligt sind, ist zwischen Teilgläubigerschaft, gemeinschaftlicher Gläubigerschaft und Einzelgläubigerschaft zu unterscheiden. Die Einzelgläubigerschaft wird weiter in Einzelgläubigerschaft mit und ohne Gleichberechtigung unterteilt

Teilgläubigerschaft

  • Gläubiger
    • Mehrere Gläubiger sind unabhängig voneinander pro rata an einer teilbaren Forderung berechtigt, wobei die Leistung in ihrer Gesamtheit nur einmal zu erbringen ist
    • Jeder Gläubiger kann selbständig den ihm zustehenden Teil der Leistung fordern
    • Die Teilforderungen bilden hier nur insoweit ein Ganzes (eine ganze Forderung), als sie aus dem gleichen Rechtsgrund entstanden sind
    • Vgl. BGer 4A_465/2013 E. 2.2.3
  • Schuldner
    • Der Schuldner muss den entsprechenden Teil an jeden Gläubiger separat leisten
  • Entstehung
    • Die Teilgläubigerschaft ist bei vertraglichen Obligationen von Gesetzes wegen der Regelfall
    • Bei teilbaren Leistungen wie Geldforderungen ist im Zweifelsfall ebenfalls von Teilgläubigerschaft auszugehen
    • Die Teilgläubigerschaft entsteht auch bei einem gemeinsamen Vertrag, d.h. wenn mehrere Vertragsparteien, unter denen kein Gesamthandverhältnis besteht, auf einer Vertragsseite kontrahieren
  • Anwendungsfälle
    • Miteigentümer, die ihre Liegenschaft als Ganzes verkaufen, sind Teilgläubiger, welche unabhängig voneinander je einen Teil der Kaufpreisforderung gegenüber der Käuferschaft geltend machen können
    • Weiter wichtiger Anwendungsfall ist die Anleihensobligation (OR 1156 ff.)

Gemeinschaftliche Gläubigerschaft

  • Gläubiger
    • Die gesamte Forderung steht den Gläubigern ungeteilt zu
    • Gläubiger können die Forderung nur gemeinsam geltend machen
  • Schuldner
    • Der Schuldner kann sich nicht durch Leistung an einen einzelnen Gläubiger befreien, sondern nur durch Gesamtleistung an alle Gläubiger
  • Entstehung
    • Gemeinschaftliche Gläubigerschaft entsteht grundsätzlich nur dann, wenn unter den Gläubigern ein Gesamthandverhältnis besteht
  • Anwendungsfälle
    • Einfache Gesellschaft (OR 544 Abs. 1)
    • Erbengemeinschaft (ZGB 602 Abs. 2)

Einzelgläubigerschaft

  • Einzelgläubigerschaft mit Gleichberechtigung – Solidargläubigerschaft (OR 150)
    • Gläubiger
      • Die gesamte Forderung steht jedem Gläubiger ungeteilt und selbständig zu
      • Jeder Gläubiger kann die Erfüllung der ganzen Leistung an sich selbst verlangen
      • Solidarität unter den Gläubigern macht Forderung zu einer sog. Solidarforderung
      • Massnahmen eines Gläubigers wie Inverzugsetzung durch Mahnung oder Unterbrechung der Verjährung wirken für alle Mitgläubiger
      • Ausübung von Wahlrecht, Rücktrittsrecht etc. kann nur einheitlich ausgeübt werden
      • Es gibt keine gesetzliche Regelung zum Regress unter den Solidargläubigern. Die Ausgestaltung des Innenverhältnisses steht den Gläubigern frei
    • Schuldner
      • Befreiung durch Leistung an einen Gläubiger / Schuldner-Wahlrecht
        • Der Schuldner kann mit befreiender Wirkung an jeden Gläubiger leisten (OR 150 Abs. 2)
      • Ende des Wahlrechts bei Belangung durch einen Gläubiger
        • Bei Belangung durch einen Gläubiger (Forderung wird eingeklagt oder in Betreibung gesetzt) muss der Schuldner an diesen Gläubiger leisten (OR 150 Abs. 3) und nur an diesen (vgl. BGE 94 II 313, 318 Erw. 6; BGer 4A_630/2020 + 4A_632/2020 vom 24.03.2022   =   BGE 148 III 115 ff.
          • Die Bestimmung von OR 150 Abs. 3 ist auf jede Solidarforderung anwendbar, unabhängig von ihrem Rechtsgrund (vgl. BGE 94 II 313, 318, Erw. 6 = Pra 1969, 401, 403).
    • Entstehung
      • Solidarität unter mehreren Gläubigern entsteht, wenn der Schuldner erklärt, jeden einzelnen auf die ganze Forderung berechtigen zu wollen sowie in den vom Gesetze bestimmten Fällen
    • Anwendungsfälle
      • von Gesetzes wegen
        • OR 262 Abs. 3 (Haftung für Untermieter)
        • OR 399 Abs. 3 (Bei Übertragung der Auftragsbesorgung auf einen Dritten)
      • aus Vertrag
        • zB Gemeinschaftskonto (“compte-joint“)
  • Einzelgläubigerschaft ohne Gleichberechtigung
    • Gläubiger
      • Nur ein bestimmter Gläubiger soll Leistung erhalten
      • Nur dieser bestimmte Gläubiger kann Leistung an sich selber fordern
      • Andere Gläubiger können nur Leistung an diesen bestimmen Gläubiger fordern
    • Schuldner
      • Befreiende Wirkung durch Leistung an bestimmten Gläubiger
    • Entstehung
      • Durch Erklärung des Schuldners oder von Gesetzes wegen
    • Anwendungsfälle
      • Echter Vertrag zugunsten Dritter (OR 112)
      • Nacherbschaft (ZGB 489 Abs. 1)

Literatur

  • BSK OR I-GRABER, Basel 2020, N 1 ff. Art. 150 OR
  • KUKO OR-JUNG, Basel 2014, N 1 ff. zu Art. 150 OR
  • Huguenin Claire, Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Zürich 2008, N 1432 ff.
  • Furrer Daniel / Müller-Chen Markus, Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Schulthess (Zürich), Zürich 2012, S. 255 ff.
  • Von Thur Andreas, Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechts, II. Halbbd., Tübingen 1925, S. 682

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